Niemand mag Moralapostel

 

Redaktion: Marie Spitznagel

Liebe Uschis, diesen Text habe ich jetzt schon drei Mal angefangen und wieder aufgehört. Weil es mir komisch vorkommt über Moral zu schreiben, wenn 700 km östlich von mir Bomben auf Wohnhäuser fallen und in Deutschland weinerliche Pupsnasen über eine „Diktatur“ lamentieren, während in Russland Menschen 15 Jahre ins Gefängnis wandern können, falls sie das Wort „Krieg“ benutzen.

Andererseits ist vielleicht keine Zeit geeigneter über Moral zu schreiben als genau jetzt. Denn es geht ja nicht nur darum, wie man sich „anständig“ oder „sittlich“ verhält. Es geht darum, wie wir als Menschen in Zukunft miteinander leben wollen und können. Wir befinden uns an einer wichtigen Schwelle unserer Zivilisation und wir alle haben die Möglichkeit, unsere Zukunft mitzugestalten.

Dabei schauen wir in verschiedene Richtungen, wenn es darum geht, Vorbilder und Inspiration zu finden. Wer soll uns denn heute helfen zu definieren, was „moralisch“ ist? Denn früher anerkannte Institutionen für diese Themen haben massiv an Einfluss und Vertrauen verloren.


Die Rolle von Religion als Wertekompass

Während weltweit mehr Menschen Glaubensgemeinschaften beitreten, ist in Deutschland die Entwicklung entgegengesetzt. Gründe dafür gibt es viele. Zu viele, um sie jetzt hier alle aufzuschreiben.
Der Moderator Micky Beisenherz hat es in einem Statement in DIE ZEIT eigentlich am schönsten gesagt: 

„Da ist ein Club, dessen Grundverständnis in zentralen Punkten diametral den eigenen Werten entgegengesetzt ist [...] Mit der Kirche und dem Glauben an Gott ist es wie mit der Fifa und dem Fußball. Gegen diese fast irrationale Liebe ist nichts einzuwenden – es ist der dubiose Dachverband, der das alles erkalten lässt.“

Die Kirche (speziell die römisch-katholische) verliert gerade zahlreiche Mitglieder und lässt ein spirituelles Vakuum zurück. 27 Prozent aller Deutschen definieren sich als Atheisten oder Agnostiker. Das sind mehr als jeder Kirche in Deutschland angehören. Weltweit liegt der Anteil bei circa 13 Prozent mit enormen nationalen Unterschieden.

Wenn also etablierte Kirchen, aus absolut nachvollziehbaren Gründen, nicht mehr moralische Instanz in unserem Leben sein können, wer füllt dann diese Lücke? 

Kirchen haben uns jahrhundertelang erzählt und erklärt, was wir dürfen, was wir sollen, was gut ist und was nicht. Mehr noch als die Religion, die sie vertreten. Der Austritt aus der Kirche ist ja für viele Menschen mehr als nur weniger Steuern zu zahlen und Sonntagvormittag frei zu haben. Es ist ein Bruch mit moralischen Grundvorstellungen, der Vertrauensverlust in eine Instanz, die vorgab, was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein. Und muss ich dazu sagen, dass ich mit Sicherheit kein Fan all dieser moralischen Vorstellung bin. „Du sollst nicht töten“ – okay cool, da gehe ich mit. Daraus wurde dann aber über die Jahrhunderte „Du sollst nicht töten, außer wir erlauben es dir und schau mal da, die unverheiratete Frau ist schwanger. Geh und mach ihr das Leben zur Hölle. Amen.“

Kein uneingeschränkter Fan also, aber das muss ich auch gar nicht sein, um zu erkennen, dass diese Institution trotzdem wichtig war und noch immer ist. Die Frage ist jetzt, was passiert mit uns gesellschaftlich, wenn diese moralische Instanz wegfällt? Und sie ist ja nicht nur einfach weg – sie hat Menschen enttäuscht, verletzt und vielen unheimlich geschadet. Da entsteht mehr als eine Lücke. Es entsteht ein schwarzes Loch mit unfassbarem Sog ins Ungewisse.

Menschen suchen vielleicht nach neuen moralischen Vorbildern und landen dann manchmal an eher fragwürdigen Stellen. Aber wir als Gesellschaft brauchen dringend eine gemeinschaftliche Vorstellung davon, was gut und richtig ist. In unserem sozialen Gefüge müssen Regeln etabliert sein, an die wir uns halten können. 

Doch diese Regeln, diese Fundamente bröckeln. Bis vor Kurzem dachten wir noch, es würde innerhalb Europas keine Kriege mehr geben. Ganz egal wie verlogen dieser Glauben war, wenn an unseren Außengrenzen noch immer tagtäglich Menschen sterben und der Balkan ___STEADY_PAYWALL___ ja auch irgendwie zu Europa gehört. Aber dieser Glaube war da und gab Sicherheit, nun ist auch er in seinem Inneren erschüttert.



Woran halten wir uns also fest?

Ich bin kein religiöser oder spiritueller Mensch. Ich glaube nicht an höhere Mächte. Weder an einen oder mehrere Götter, nicht an Tarotkarten oder Sternzeichen und auch nicht, dass „das Universum“ irgendein Interesse daran hat, in mein Leben einzugreifen. Ich bin auch der tiefen Überzeugung, dass institutionalisierte Religionen keinerlei Einfluss auf Staat und Politik haben dürfen. Gerade mit Blick auf die Entwicklung in den USA bekomme ich da Bauchschmerzen. 

Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht an Menschen und das Gute in ihnen glauben kann. Während meiner Abi-Zeit und auch in den ersten Semestern an der Uni habe ich mich viel mit Philosophie auseinandergesetzt. Sokrates, Plato, Kant. Wer jetzt vielleicht keine Lust hat, sich durch 3000 Jahre alte Texte alter bärtiger Männer zu kämpfen, dem empfehle ich dringend die Serie “The Good Place”. Darin wird auf eine schöne und verständliche Art und Weise jede dieser philosophischen Theorien untersucht. Oder ihr lest Simone de Beauvoir und Hannah Arendt. 

Wer von euch kennt den kategorischen Imperativ? „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Also, mach nur das, was in deinen Augen alle machen können und sollen. Da könnte man mal drüber nachdenken.

Und was soll die Lektüre dieser und anderer Ideen bringen? Ganz einfach, die Frage wie wir unser Zusammenleben strukturieren sollen, treibt uns ja auch nicht erst seit gestern um und ganz viele kluge Menschen haben sich schon ganz viele kluge Gedanken dazu gemacht. Anstatt die nochmal neu zu entwickeln, können wir einfach auf deren Ideen, Überlegungen und Erfahrung zurückgreifen. 

Gemeinsame moralische Grundhaltung

Schon im antiken Griechenland fragte man sich: Wie werde ich ein guter Mensch? Wie verhalte ich mich moralisch? Was ist Moral überhaupt? All diese Fragen wurden schon tausendmal auf tausend verschiedene Arten beantwortet. Es sind unglaublich viele Ideen dazu da. Wir müssen sie einfach nur ergreifen und uns mit ihnen auseinandersetzen.

Denn wir brauchen dringend eine gemeinsame moralische Grundhaltung. Wir müssen füreinander und miteinander etablieren, was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein, wie wir in diesem sozialen Gefüge miteinander leben wollen und die Frage beantworten, was wir Menschen einander schuldig sind. Ansonsten enden wir in einer Gesellschaft, in der jeder nur noch auf sich selber und seinen eigenen Vorteil schaut, man auf die Gesundheit anderer Menschen scheißt, weil man keine Lust hat, eine Maske zu tragen. Und ja ich nehme diese ganzen Querdenker und Corona-Leugner hier als negatives Beispiel, denn der dort verwurzelte Egoismus ist für mich ein Zeichen dafür, dass uns das Verständnis für Gemeinschaft fehlt. Und ein abschreckendes Szenario, was uns blüht, wenn enttäuschte Menschen sich an Quatschglauben klammern. 



Woran wir erkennen, wem wir glauben können

Natürlich bin ich nicht die richtige Person, um irgendjemanden zu sagen, was und woran er glauben kann, darf, muss. (Ich tue es teilweise trotzdem, ich weiß.) Aber ich möchte euch alle dazu animieren, euch regelmäßig zu fragen, was eure Werte sind und wie ihr diese Werte leben könnt und wollt. Seid umsichtig mit eurem Vertrauen, denn nicht jeder verdient es. Wer euch erzählt, die einzige Wahrheit zu verbreiten (ohne Fakten und Belege liefern zu können) lügt meistens. Und nur, weil etwas einfach und komfortabel klingt, ist es nicht zwangsläufig wahr oder gut.

Und (das ist jetzt wichtig) auch unsere Werte dürfen wir in unserem Leben immer mal wieder überprüfen. Niemand hat von Anfang an und für immer Recht. Das macht es natürlich insgesamt nicht einfacher. 

Manchmal finden wir dann Inspirierendes an Stellen, an denen man es nicht vermutet. Da muss man manchmal einfach offen sein. Für mich ist es die altkatholische Gemeinde in meiner Umgebung, allen voran der dortige Pfarrer, der meiner Meinung nach die christlichen Grundwerte glaubwürdig und liebevoll vertritt. (An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen, dass ALTkatholisch gefühlt fast das Gegenteil von römisch-katholisch ist. Eine echt wichtige Unterscheidung!) Wer hätte das gedacht, dass ich mal gerne an einem Sonntagvormittag in die Kirche fahre, einfach um jemanden zuzuhören. Also ich nicht, das ist mal sicher. Aber da ich sowohl die Bibel als auch die “Bibel nach Biff” gelesen habe, bin ich ja grundsätzlich Fan der christlichen Idee, die zugegeben nicht immer etwas mit ihrer Umsetzung in den dazugehörigen Kirchen zu tun hat.


Und wie geht es weiter?

Orientieren wir uns an der Antike

Diese Frage stellt sich angesichts der aktuellen Weltsituation ja generell. Wie können wir als Menschheit weitermachen? Denn weitergehen muss es ja. Irgendwie. Hoffentlich. Wenn ich nicht gerade total verzweifelt nihilistisch bin, plädiere ich für eine gemeinsame Suche nach unseren Werten, nach einer demokratischen Grundordnung, nach der ja offensichtlich auch die meisten Menschen streben, auch wenn für viele dieser Weg immer steiniger wird. Wer hätte gedacht, dass wir etwas, uns so Selbstverständliches, irgendwann wieder verteidigen müssen. 

Vielleicht brauchen wir keine neue Renaissance oder neue Phase der Aufklärung, sondern orientieren uns erstmal wieder an der Antike und versuchen eine neue Phase der ganz grundsätzlichen philosophischen Findung. Aber ohne Sklaverei und Kriegen zwischen Stadtstaaten. Das wäre doch mal was.


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Ein Artikel von Marie Spitznagel