Selbstvertraut, selbstverliebt, selbstverloren
Redaktion: Marie Spitznagel
Liebe Uschis, dieser Text wird wieder etwas länger, etwas wirrer und etwas Elementare-Fragen-stelliger. Hoffentlich hilft er aber euch und mir unsere Gedanken ein bisschen zu ordnen. Denn aktuell denke ich viel darüber nach, wie wichtig es ist jemanden zu haben, der verlässlich ehrliche Meinungen gibt. Wir alle wissen selbstverständlich, dass das nicht immer das ist, was uns die neue „Self-Care und Selbstoptimierungsbubble“ unbedingt anpreist.
Es gibt so viele gut gemeinte Ratschläge, die in vollständig unterschiedliche Richtungen laufen.
„Umgib dich mit Menschen, die an dich glauben und dich inspirieren“ und „Sei nie zu stolz, Kritik anzunehmen“.
Ja, was denn nun?
Die Theorie ist ja, dass nur Menschen, die einem auch offen ihre Meinung sagen, verlässliche Freunde sind. Allerdings wollen wir doch eigentlich gar keine „konstruktive Kritik“ hören. Wir wollen, dass uns jemand versichert, dass wir alles gut und richtig machen oder dass diejenigen, die uns kritisieren, auf jeden Fall falschliegen. Und umso erfolgreicher manche Menschen werden, umso mehr glauben sie immer im Recht zu sein. Und umso mehr werden sie vielleicht auch Menschen aus ihrem Umfeld aussortieren, die berechtigte Kritik und Denkansätze geben können. Ist das so? Oder nicht? Wie komme ich jetzt auf dieses Thema?
Here we go again
In den letzten Tagen wurde (mal wieder) Kritik an Heidi Klum und Germany's Next Topmodel laut. Über sie, und warum ich sie nicht uneingeschränkt toll finden kann trotz ihres grandiosen Erfolges, habe ich schon einen Beitrag geschrieben, den ihr gerne noch mal nachlesen könnt. Was ist jetzt aber passiert, weswegen ich der Meinung bin noch mal über sie oder von ihr inspiriert, einen Text verfassen zu müssen?
Also, Deutschlands liebster blauhaariger Investigativjournalist Rezo hat in seinem aktuellen Youtube-Video auf verschiedene Missstände bei Germany's Next Topmodel aufmerksam gemacht. Die Vorwürfe waren nicht neu, niemand von uns könnte behaupten, diese Dinge nicht wenigstens erahnt zu haben.
Neu ist allerdings, dass er diese Anschuldigungen mit Aussagen von Zeug*innen unterfüttern konnte. Diese erwartet zum Teil auch heftige Konsequenzen, da sie vertragsbrüchig wurden, indem sie über ihre Erlebnisse in der Show gesprochen haben.
Wie gesagt, all das, was dort aufgedeckt wurde, kann eigentlich nicht schockieren. Wir alle wussten das und trotzdem fanden manche es okay, diese Show "ironisch" zu gucken. Nun ja.
Was mich persönlich allerdings wirklich schockiert ist Heidi Klums Reaktion auf all das. Sie tut nicht mal so, als würde sie die Vorwürfe ernst nehmen oder überprüfen wollen. Nein, in der Anmoderation des Finales spricht sie von ‚Hatern‘ und sagt, man werde genauso weitermachen wie bisher.
Und hier stelle ich mir eine Frage: Hat sie niemanden in ihrem Umfeld der ihr sagt „Heidi das ist eine Scheißidee! Tu doch wenigstens so, als würdest du etwas ändern wollen.“
Ganz egal wie wir selber zu diesem speziellen Thema stehen (da diskutieren gerade ganz viele andere kluge Leute zu), wir alle brauchen manchmal jemanden, der uns liebevoll ins Gesicht sagt: „Das ist doof! Dein Verhalten ist nicht okay, denk da noch mal drüber nach, willst du das wirklich so sagen?“. Wie lässt sich das aber gleichzeitig mit dem Mantra vereinbaren „Umgib dich mit Menschen, die an dich glauben!“?
Hier gibt es einen ganz schmalen Grad, der nicht immer problemlos beschritten wird oder werden kann. Wahrscheinlich ist es ab einem bestimmten Punkt extrem schwierig, konstruktive Kritik noch als solches anzunehmen. Wenn man ein gewisses Maß an Erfolg erreicht hat, hat man schon eine Menge an Unkenrufen hinter sich gebracht. Man hat Erwartungen übertroffen, hart gearbeitet, sich selbst und andere überrascht. Und dabei haben wir alle Menschen hinter uns gelassen, die uns nur „konstruktive Kritik geben wollten“, aber schlicht nicht daran geglaubt haben, dass wir unsere Ziele erreichen könnten. Wie findet man trotzdem zu einem ___STEADY_PAYWALL___Punkt, an dem man sich selbst immer wieder auch hinterfragt? Muss man sich überhaupt immer wieder hinterfragen, oder macht Heidi alles richtig? Der Erfolg stimmt offensichtlich, also wen kümmern die jungen Mädchen, die dabei auf der Strecke bleiben?
Warum es so wichtig ist, selbstkritisch zu bleiben
Erfolgreiche Menschen glauben an sich selbst und ihre Fähigkeiten. Das das kann man auf jedem Business-Influencer Profil bei Instagram nachlesen, also muss es stimmen.
Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist eine unheimlich wichtige Eigenschaft, um in irgendeiner Art und Weise erfolgreich zu werden. Aber wann wird aus dem Glauben an sich selbst die Missachtung anderer? Ja, wir müssen der Mittelpunkt unseres eigenen Universums sein, aber das bedeutet doch nicht, alle weiteren Sonnensysteme für unwichtig zu empfinden. Bei allem Glauben an uns selbst müssen wir doch immer im Klaren darüber sein, dass wir keine Insel sind.
Wir leben in einem sozialen Gefüge. Und spätestens in dem Moment, in dem wir sehen, dass unser eigenes Verhalten anderen Menschen schadet oder Leid zufügt, müssen wir uns doch fragen, was wir falsch machen. Oder irre ich mich da? Kann man nur erfolgreich sein, wenn man auf die Empfindung anderer Leute scheißt? Könnte Heidi Klum eine Show wie Germany's Next Topmodel machen, ohne dass dabei junge Menschen verletzt werden?
Oder um mal eine andere prominente Person unter die Lupe zu nehmen, wie oft haben Fynn Kliemann Fans kostenlos ihre Arbeitszeit angeboten, weil sie ihn und seine Youtube-Videos cool fanden, bis es für ihn total normal und okay war, nach unbezahlten Arbeitskräften zu fragen?
Natürlich will ich hier nichts entschuldigen, aber Grenzen, gerade auch die Selbstgestecken, verschieben sich ganz schnell. Schneller, als wir selbst es oft merken. Wenn dann diese Grenzüberschreitungen auch noch belohnt werden, zum Beispiel mit Geld und/oder Ansehen, warum sollte man da vor der nächsten Grenze Halt machen?
Aber abgesehen von den Gefühlen anderer Menschen, auch aus ganz egoistischen Gründen ist gesunde Selbstkritik und generell Kritikfähigkeit wichtig. Schließlich lernen wir von unseren Fehlern am meisten. Auch wenn dieser Lernprozess zu den schmerzvolleren Erfahrungen gehört.
Konstruktive (Selbst)Kritik gesund anzunehmen kann man übrigens auch lernen.
Eine Frage der Balance
Natürlich habe ich keine superduper einfache Antwort darauf, wo diese dünne Linie verläuft zwischen „Support und Asskissing“, „konstruktiver Hilfe und bösartigem Träume zerstören“.
Ich habe auf Social Media rumgefragt und eine häufige Rückmeldung war, dass die Dauer der Freundschaft zu der kritisierenden Person da eine große Rolle spielt. Wie viel hat man gemeinsam schon erlebt? Wie häufig hat sich dieser Freund bereits loyal gezeigt? Außerdem: Wie wird die Kritik formuliert?
All diese Kriterien sind keine Garantie, nichts Sicheres. Vielleicht maximal eine ungefähre Richtlinie. Sicherlich hängt, wie man die Kritik von jemanden aufnehmen kann, auch noch mehr damit zusammen, wie offen man ist für ehrliche Rückmeldungen. Es ist schwierig, die dünne Linie zu finden zwischen Selbstvertrauen, Selbstüberschätzung und destruktiver Selbstkritik.
Vertrauen in sich selbst muss auch bedeuten, dass man Vertrauen in seine Entscheidungen hat. Bedeutet das deswegen, dass man davon ausgehen muss, immer richtig zu liegen? Vielleicht muss man auch Vertrauen in die Tatsache haben, dass man menschlich ist und Fehler in seinem Leben machen wird. Gleichzeitig ist nicht jeder Shitstorm sofort Grund einzuknicken und die eigene Daseinsberechtigung infrage zu stellen.
Am Schluss dieses Textes komme ich leider nicht zu einer klaren Erkenntnis. Ich weiß nicht, ob oder wie sich dieses Dilemma lösen lässt. Ist das überhaupt ein Dilemma oder baue ich in meinem Kopf nur wieder Probleme zusammen, die sonst niemand hat?
Aber bevor ich mit nichts abschließen kann, komme ich zurück zum kategorischen Imperativ nach Immanuel Kant: Verhalte dich nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie universelles Gesetz wird.
Benimm dich also so, wie sich alle Menschen benehmen sollen. Gehe nie davon aus, dass DU die einzige Ausnahme bist. Regeln sollten für alle gelten, Achtung sollte man vor allen Menschen haben. Niemand ist unfehlbar und wenn dein Umfeld so tut, als wärst du es, solltest du es ganz genau überprüfen. Niemand ist perfekt.
Das ist als Abschluss aber auch zu negativ, oder? Also, es ist gut und richtig, an seine Träume zu glauben und sie verwirklichen zu wollen. Es ist vollkommen gerechtfertigt, seine Erfolge zu feiern und zu genießen. Übertriebene Bescheidenheit ist in meinen Augen auch keine Tugend. Wir dürfen, sollen, können feiern, was wir gut gemacht haben! Wir müssen unsere eigenen Cheerleader sein, uns gut finden und an uns glauben. Und trotzdem dabei nie vergessen, dass wir Menschen sind und Fehler machen werden.
Ich wünsche uns allen, dass wir es schaffen, ein Umfeld zu kultivieren, in dem wir Offenheit und kontroverse Meinungen, Kritik und echten, ehrlichen Austausch wertschätzend annehmen können.
So schwer es auch ist, aber ich bin mir sicher, dass letztendlich alle davon profitieren. Ausser ihr haltet das für eine schlechte Idee. Dann will ich nichts hören.