Wissenschaft erklärt die Welt ... nur in Zeiten von Corona?
Ein Gastartikel von Bettina Ludwig
Menschen mit weißen Kitteln, Mundschutz und Gummihandschuhen erforschen ein Virus. Mikroskope, Reagenzgläser und Pipetten sind im Einsatz. Daten werden digital übertragen und Computer spucken Listen, Zahlen und hoffentlich Lösungen aus. Vor allem seit der Corona Pandemie sind Zeitungen, Fernsehberichte, sozialen Medien und die Köpfe der Menschen voll von diesen Bildern. So weit so gut.
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass Wissenschaft jedoch noch viel mehr ist als das. Im Artikel beschreibe ich, was ich durch meine Forschungen in der Kalahari Wüste über den Ursprung von Wissenschaft erfahren habe. Es geht um Jäger, SammlerInnen, Gesellschaften, Spurenlesen und darum, was Wissenschaft tatsächlich leisten kann!
In Zeiten der Corona Krise wird auf die Wissenschaft gesetzt. Man hofft auf ein Medikament, welches die Infizierten heilt. Man hofft auf eine Impfung, welche die Gesunden schützt. Man erhofft sich Statistiken, welche die Ängste lindern.
All diese Hoffnungen entspringen einem Bild von Wissenschaft, die im Labor stattfindet. Menschen mit weißen Kitteln, Mundschutz und Gummihandschuhen erforschen ein Virus. Mikroskope, Reagenzgläser und Pipetten sind im Einsatz. Daten werden digital übertragen und Computer spucken Listen, Zahlen und hoffentlich Lösungen aus.
Die Zeitungen, die Fernsehberichte, die sozialen Medien und die Köpfe der Menschen sind voll von diesen Bildern. So weit so gut.
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass Wissenschaft jedoch viel mehr ist als das. Wissenschaft entspringt und endet nicht im Labor. Wissenschaft ist nicht die Summe der Naturwissenschaften. Wissenschaft muss nicht im weißen Kittel betrieben werden. Wissenschaft, das sind wir.
Was ist Wissenschaft?
Im deutschsprachigen Raum verwenden wir den Begriff Wissenschaft und trennen ihn später in Natur- und Sozialwissenschaften auf. Ein Trugschluss! Wenngleich wissenschaftliche Methoden unterschieden werden können, ist das Herzstück der Wissenschaft immer dasselbe.
Wissenschaft in ihrer Essenz bedeutet nicht mehr und nicht weniger als Erfahrung verständlich zu machen. Es bedeutet ein Warum? hinter ein Ereignis zu stellen.
So wie den Begriff „wirtschaften“ muss auch der Begriff „wissenschaften“ eingeführt werden. Denn es sind die Tätigkeit beziehungsweise der Denkprozess selbst, welche die Wissenschaft ausmachen. Durch wissenschaftliches Schlussfolgern – oder durch „wissenschaften“ – kann man theoretisch jedes beliebige Phänomen erklären.
Wie funktioniert wissenschaftliches Schlussfolgern?
Der dahinterliegende Prozess wird in fünf Schritte unterteilt.
Man nimmt ein Ereignis wahr, welches man nicht versteht, jedoch gerne verstehen möchte.
Man informiert sich, ob jemand anderer bereits eine Erklärung dafür gefunden hat und überprüft diese. Sofern andere Erklärungen nicht zufriedenstellend sind, macht man weiter.
Man stellt eine Hypothese auf. Demzufolge überlegt man sich auf kreative Art und Weise, wie es zu diesem Ereignis hätte kommen können.
Man testet die eigene Hypothese gegen. Man stellt ihr alle Daten, die man über das Ereignis bekommen kann, gegenüber und überprüft, ob sie immer noch funktioniert.
Macht die Erklärung im Gegencheck mit all diesen Daten immer noch Sinn, lautet die Schlussfolgerung: die in Schritt 3 aufgestellte Hypothese – die in Schritt 4 eventuell verfeinert oder angepasst wurde – erklärt das Ereignis.
Wo kommt Wissenschaft her?
Als Anthropologin habe ich mir nun folgende Fragen gestellt: Wo kommt diese Form des Schlussfolgerns her? Wo kommt Wissenschaft her? Wurde Wissenschaft erfunden? Von den alten Griechen etwa? Ich habe mich auf die Suche nach den Antworten auf diese Fragen gemacht und bin letztendlich in der Kalahari Wüste Namibias bei den Ju ́/Hoansi Jägern und SammlerInnen gelandet.
Durch meine Forschungen habe ich erkannt, dass Wissenschaft keine Erfindung des Menschen ist, sich nicht im alten Ägypten entwickelte oder etwa im antiken Griechenland. Wissenschaft ist stattdessen eine dem Menschen innewohnende Fähigkeit.
Um diese Erkenntnis zu erklären bedarf es einen Ausflug in die Welt der Jäger und SammlerInnen in der Kalahari Wüste Namibias.
Vor Ort ist Spurenlesen eine Fähigkeit, die einem das Überleben sichert. Nicht nur, um bei der Jagd die Fährte eines Tieres aufzunehmen, sondern auch beim Sammeln von Pflanzenmaterial, beim Navigieren und zur Orientierung werden Spurenlesefähigkeiten benötigt und eingesetzt.
Zum einen werden also Fußabdrücke am Erdboden erkannt. Oft können durch diese Fußspuren bereits Gender, Alter und Geschwindigkeit des Tieres identifiziert werden. Ja sogar die menschlichen Gruppenmitglieder werden so identifiziert (krass, oder?!).
Nun können Spurenleser auch die Bewegungen der Tiere anhand der Fußabdrücke erkennen. Ist dieses Tier gemächlich spaziert, ist es gelaufen oder gar gesprungen – weil es zum Beispiel erschreckt wurde? Die feinen Zeichen im Untergrund geben Auskunft darüber.
Neben den tatsächlichen Fußspuren geben aber auch noch andere Signale Aufschluss darüber, um welches Tier es sich handeln könnte. Darunter: Geräusche, Geruch, Spuren in der Vegetation, Fressspuren, Urin, Fäkalien, Speichel, Unterschlüpfe, Bauten, Skelette oder auch Umstände wie das Wetter, die Tages- oder die Jahreszeit. Stehen genügend Zeichen zur Verfügung kann eine Spur auf ein bis drei Tage genau datiert werden.
Was hat Spurenlesen nun mit Wissenschaft zu tun?
Während meiner Forschungen hat sich schnell gezeigt, dass die Fähigkeit des wissenschaftlichen Schlussfolgerns gleichermaßen während der Jagd, beim Sammeln von Pflanzenmaterial und auch beim Navigieren in der freien Wildbahn benötigt wird, genauso wie im Labor. Möchte man beispielsweise einer Tierspur folgen, um ein bestimmtes Tier aufzuspüren, wendet man denselben Schlussfolgerungsprozess, wie oben beschrieben, an:
Ereignis wahrnehmen, das man erklären möchte: Welches Tier hat diese Spur gemacht und wo führt die Spur hin?
Gemeinsam mit den Jagdkollegen wendet man das gesammelte Wissen, das man in seinem Leben über Spuren gelernt hat, an diesem einem Beispiel an.
Man stellt eine Hypothese auf: Dies ist ein männliches Kudu (Antilopenart), das sich vor ein bis zwei Stunden langsam Richtung Nordosten bewegt haben muss.
Gegentesten der Hypothese: alle Jäger bringen ihre Überlegungen ein. Es entsteht eine Diskussion, aus der die final angepasste Hypothese entspringt.
Schlussfolgerung: man ist sich einig um welches Tier es sich handelt und in welche Richtung man gehen muss, um dem Tier zu folgen.
Der Lebensstil heutiger Jäger und SammlerInnen Gesellschaften zeigt, dass Wissenschaft nie erfunden wurde. Ganz im Gegenteil, die Fähigkeit wissenschaftlichen Denkens steckt in jeder und jedem von uns. Von dem Tag an, an dem wir geboren werden.
___STEADY_PAYWALL___
Denn aus der Archäologie wissen wir, dass der Mensch etwa 95 % seiner Zeit auf dieser Erde als Jäger und Sammler gelebt hat. Ein Lebensstil, der die Fähigkeit des Spurenlesens voraussetzt. Zu jagen, zu sammeln und sicher zu navigieren sind Tätigkeiten, die bereits den Alltag unserer Vorfahren vor über 300.000 Jahren prägten. So haben uns die Jäger und SammlerInnen der damaligen Zeit die Fähigkeit des wissenschaftlichen Schlussfolgerns sozusagen in die Wiege gelegt.
Die Evolution hat aus jeder/m von uns eine Forscherin gemacht. Die Fähigkeit, kreativ Hypothesen aufzustellen und wissenschaftlich zu Schlussfolgern, haben es uns ermöglicht, als Menschen in der Welt zurecht zu kommen. Und diese Skills haben wir seither nicht mehr abgegeben.
Wissenschaft findet überall statt
Wissenschaft findet also im Labor, in der Kalahari Wüste und überall dazwischen statt. Wir sind als Menschen mit dem Potential ausgestattet, uns die Welt zu erklären. Auch wenn viele Fragen heute noch offen sind, gemeinsam rücken wir gewissen Antworten immer näher.
Schränken wir uns also nicht ein und begreifen Wissenschaft nur als Labortätigkeit. Dieser Bereich der Wissenschaft ist wichtig und bringt uns als Gesellschaft definitiv voran.
Erkennen wir Wissenschaft jedoch in ihrer Gesamtheit, werden wir bemerken, dass wir alle mitdenken und mitreden können. Erlauben wir uns, die Welt als unser eigenes Forschungsprojekt zu sehen. Egal um welches Thema es sich handelt, egal welche Branche, egal welches Ereignis – stellen wir ein Warum? davor und erforschen wir die Welt. Denn es ist an der Zeit, das Potential aller ForscherInnen auf dieser Welt zu aktivieren.
Ja, wenn Wissenschaft die Welt erklärt, dann können wir alle mitreden.