Shifting Baselines und Frösche im heißen Wasser
Redaktion: GUK-Macherin Henriette Frädrich
Eine beunruhigende Entwicklung: Es scheint, als verlören immer mehr Menschen den Glauben an das Gute und den Glauben, daran, dass es sich lohnt, sich mit guten Absichten für das Gute einzusetzen. Aber wie konnte es soweit kommen?
Es gibt diese Geschichte vom Frosch im heißen Wasser. Würde man einen Frosch in heißes Wasser schmeißen, würde er sofort wieder vor Schreck und Autsch heraus springen. Würde man den Frosch allerdings in kaltes Wasser setzen und das Wasser dann langsam erhitzen bis es unerträglich und gefährlich heiß wird, so würde der Frosch im Wasser hocken bleiben - und, je heißer das Wasser, sterben. Ob die Geschichte stimmt, weiß ich nicht. Ich habe sie nicht geprüft. Es ist eine Geschichte aus dem Internet, die zu verschiedenen Thematiken als Metapher heran gezogen wird. Bei Geschichten aus dem Internet darf man per se immer erst mal skeptisch sein. Bei Froschexperten habe ich nicht angerufen, um den Wahrheitsgehalt zu prüfen. Und die Versuchsanordnung wäre zudem auch viel zu grausam, um den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu belegen.
Dennoch benutze ich die Metapher, ob sie nun wahr ist oder nicht. Denn der Grundgedanke dahinter illustriert ziemlich gut, in welcher - gefährlich heißen – Patsche wir Menschen gerade sitzen. Das Fazit der Frosch-Story: Springt er in kochend heißes Wasser, schmerzt es, er registriert die Gefahr und hüpft sofort wieder heraus. Sitzt er hingegen in kaltem Wasser, welches langsam erhitzt wird, scheint er sich Stück für Stück an die erhöhte Temperatur zu gewöhnen und merkt gar nicht, dass er bei lebendigem Leibe gekocht wird. Bedeutet: Man kann sich an alles gewöhnen und es sich darin gemütlich machen. Auch wenn es das eigene Leben bedroht. Nichts anderes passiert gerade bei uns auf der Welt. Wir bauen einen Mist nach dem anderen – unter anderem Klimawandel, Technik-Digitalisierungs-Hörigkeit, Wachstumsverherrlichung, Ideologie-Grabenkämpfe, Hate und Dummheit im Internet – und scheinen uns in der Mehrheit genau daran zu gewöhnen.
Das, was Gewohnheit ist, das, was uns tagtäglich umgibt und vorgelebt wird, begreifen wir irgendwann nicht mehr als Gefahr. Im Gegenteil, die größte Gefahr wäre für uns, das Gewohnte zu verlassen. Wir gewöhnen ans ziemlich schnell auch an hässliche Dinge, die wir schulterzuckend zur Kenntnis nehmen. Ja mei, is halt so. Wir gewöhnen uns an das, was wir jeden Tag in den Medien hören und lesen. Und dort werden zu 90% über Dinge berichtet, auf die wir Menschen eher weniger stolz sein dürften: Politische Gerängel, Kriege, Terror, Konflikte, Katastrophen. All the bad stuff. Was wir medial vorgesetzt bekommen, bestimmt unser Weltbild und unsere Überzeugungen von Normalität und Realität.
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So ist es kein Wunder, wenn das Gute, das Gute zu wollen, für das Gute zu kämpfen und mit guten Absichten im Leben anzutreten, kaum eine Lobby hat und zynisch-verächtlich belächelt wird. Jaja, ihr Friday-for-Future-Girlies, demonstriert ihr mal schön. Tätschel-tätschel-fiesgrins-mit-Goldzahn-Emoji. Selbst wenn es uns persönlich hier in Deutschland im Vergleich zu anderen Menschen (z.B. den Kriegsopfern in Syrien) verdammt gut geht, wir in einem friedlichen und liebevollen Umfeld leben, von Menschen umgeben sind, die uns wohlgesonnen sind, einen tollen Job haben, der uns erfüllt, wir gesund sind, eine Bilderbuch-Familie haben, tolle Kinder, tolle Eltern – kurz, uns scheint die Sonne mal so richtig aus dem Allerwertesten – wir also keinerlei Grund hätten, die Welt und die Menschheit an sich für prinzipiell mies zu halten, können wir uns von der Überzeugung nicht frei machen, dass im Grunde keiner was wirklich Gutes im Schilde führt. Jeder will jeden jeden nur abzocken und verarschen. Nach mir die Sintflut. Alles Egoisten. Keiner gönnt dem anderen die Butter auf dem Brot. Diese Gedanken und Überzeugungen stecken wie Giftpfeile in uns. Es ist diese fiese Stimme, die alles schlecht redet. Die fiese Stimme, die sagt, es lohnt sich nicht, gut zu sein. Und: Es lohnt sich nicht, mit guten Absichten zu handeln.
Ja, es gibt ziemlich viele beschämende Dinge, die in jedem Moment überall auf der Welt geschehen. Das darf jedoch nicht dafür sorgen, dass wir unhinterfragt unser Weltbild und unsere Überzeugungen davon bestimmen lassen. Denn ich bin, genau wie der Autor Rutger Bregman es in seinem gleichnamigen Buch beeindruckend beweist, fest davon überzeugt, dass der Mensch im Grunde gut ist.
Shifting Baselines
"Jede neue Generation eine neue Entwicklungsaufgabe: Weil sich die Welt durch ihre Vorgänger so verändert hat, dass neben weiterem Fortschritt immer auch neue Probleme entstanden sind."
– Harald Welzer // Sozialpsychologe & Autor
Es gibt in der Forschung und Wissenschaft den Begriff der "Shifting Baselines". Kurz erklärt besagt dieser, dass sich unsere Referenzpunkte für das, was wir für normal halten, mit jeder Generation verschieben. Das hat mit Veränderungen in der Umwelt zu tun aber auch mit Fortschritt. Nichts bleibt, wie es mal war. Alles verändert sich. Und damit verändert sich auch unsere Wahrnehmung dessen, was wir als Grenzen, Normalität oder Realität erachten. Noch vor 200 Jahren gab es kaum etwas von dem, was wir heute als völlig normal betrachten. Autos. Flugzeuge. Internet. Rechte für Frauen, Kinder, Tiere. Die "Shifting Baselines" können sich in eine gute Richtung verschieben. Es ist normal, dass Kinder heute nicht mehr geschlagen werden. Schau mal 200 Jahre zurück. Da schien es ziemlich anders gewesen zu sein. Wohingegen früher die Meere noch voll mit Fisch waren. Heute sieht das anders aus. Und wir gewöhnen uns daran. Ganz langsam. Hallo Frosch im immer heißer werdenden Wasser.
Es wäre unsere Aufgabe, vor allem dafür zu sorgen, dass unsere „Shifting Baselines“ für neue, gute Normalitäten sorgen. In vielen Bereichen ist das auch so. Wir leben in den gesündesten, sichersten und friedlichsten Zeiten der Menschheit. Noch um 1950 starb jedes fünfte Kind unter fünf Jahren. Heute liegt die Kindersterblichkeit bei 3,9 Prozent. Vor 200 Jahren lebten 84% aller Menschen in extremer Armut, heute sind es 10%. Die Lebenserwartung steigt überall auf der Welt rapide an, über 90 oder gar 100 Jahre alt zu werden ist nicht mehr utopisch.
Die Autorin Meike Winnemuth betrachtet das Phänomen, sich auch an die abstrusesten Dinge zu gewöhnen, in ihrer stern-Kolumne mit dem Titel "Wat willste machen?" vom 21.03.2019:
"Das Phänomen der shifting baselines, der kollektiven Wahrnehmungsverschiebung, lässt sich natürlich prächtig auf nahezu alles anwenden, was man in Gesellschaft und Politik beobachten kann. Veränderungen schleichen sich millimeterweise ins Bewusstsein (wenn überhaupt); was vorvorgestern noch undenkbar war, ist heute völlig selbstverständlich. Was normal ist, definiert sich stetig neu."
Veränderte, neue Normalitäten können harmlos sein. Mode-Erscheinungen halt, wie Leggings, glatt rasierte Intimzonen oder Balken-Augenbrauen, die man anfangs noch komisch und sehr befremdlich findet, sich dann aber irgendwie so dran gewöhnt, dass man nicht mehr vor Irritation zusammen zuckt, wird man damit konfrontiert. Woran wir uns hingegen nicht gewöhnen sollten, auch darüber hat Meike Winnemuth nachgedacht:
"Schlimmer ist der Gewöhnungseffekt, wenn es eine Nummer größer und damit gefährlicher wird. Mit jeder Unterhausabstimmung findet man das Brexit-Chaos normaler. Man rechnet bereits mit dem Irrsinn, er ist erwartbar und damit normal. Die Steuermoral der Milliardenkonzerne, die Fuck-you-Haltung der Autoindustrie, der immer selbstverständlichere Gebrauch von Nazi-Ausdrücken wie "Lügenpresse" - man winkt inzwischen nur noch ermattet ab. Kennt man, ist halt so, wat willste machen. Die Erregungsbereitschaft lutscht sich kontinuierlich ab, das Wundern hat man schon lange eingestellt. … Die menschliche Gabe, sich mit Dingen zu arrangieren, die man nicht ändern kann, und die Geschmeidigkeit, sich auf neue Entwicklungen einzustellen, ist eigentlich ein Gottesgeschenk. … Aber ich stelle fest, dass die Verschiebungen im Referenzsystem nicht mehr schleichen, sondern galoppieren. 26% der jungen Erwachsenen im Osten und 23% Prozent im Westen finden laut einer Umfrage im Februar 2019, dass es "einen starken Führer" geben sollte, "der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss." Weniger als die Hälfte der Befragten mochten dieser Aussage "überhaupt nicht zustimmen." Neue Normalität? Ernsthaft? Lange hat mich nichts mehr so erschreckt."
Wir sind die Frösche im heißen Wasser. Und es ist dringend an der Zeit, aus dem heißen Pott heraus zu springen. Wir haben uns daran gewöhnt, zu glauben, dass "die Menschheit" böse ist und wir nur von miesen Absichten angetrieben sind. Wie wäre es mit der unverschämten Idee, einfach damit aufzuhören? Es ist also unsere Entscheidung. Womit hören wir auf? Womit machen wir weiter? Womit fangen wir an? Der Frosch sitzt in dem gemütlichen heißen Wasser, das ihn am Ende töten wird. Was rufen wir ihm zu? Hör auf damit und komm raus? Oder "Mach weiter, bleib drin sitzen!"?
Frosch, spring doch endlich!
Es ist dieses merkwürdige, kaum beschreibbare Gefühl, irgendwie immer im falschen Film zu sein, wenn man sich das, was auf der Welt so alles los ist, betrachtet. Bzw. wenn man sich das betrachtet, was man durch Medien gefiltert mitbekommt. Denn hier müssen wir ehrlich sein: Was wirklich los ist, wissen wir ja gar nicht, wenn wir nicht vor Ort sind und unser eigenes Urteil darüber fällen können. Unsere gefilterte Welt scheint – noch – von einer Regel dominiert zu sein: Die Bank gewinnt immer. Die Bösen gewinnen immer. Die skrupellosen und rücksichtslosen Menschen und Unternehmen gewinnen immer. Die mit den manchmal offensichtlichen, manchmal weniger offensichtlichen miesen Absichten. Was mit "gewinnen" gemeint ist: Profit machen. Absahnen. Kohle verdienen.
Warum wussten wir, was für eine Katastrophe Donald Trump im Amt war und haben nichts dagegen unternommen? Warum wissen wir, welche Gefahr von China ausgeht, und hecheln dem vermeintlichen neuen World-Leader doch nur hinterher, statt Haltung zu zeigen und beeindruckenden "Fortschritt", der auf Kosten jeglicher Menschenwürde geht, zu verurteilen? Warum wissen wir, was für ein Monster Brasiliens Präsident Bolsonaro ist (z.B. berichtete das Magazin stern im Herbst 2020 ausführlich darüber), und können doch nichts dagegen tun? Warum wissen wir, wie elendig Tiere gehalten und behandelt werden, die dann als Billig-Wurst auf unseren Brötchen landen – und gehen trotzdem nicht auf die Barrikaden? Ich kürze das hier ab: Es läuft viel zu viel auf dieser Welt komplett falsch. Wir huldigen den falschen Götzen: Wachstum ohne Rücksicht auf Verluste. Unnötige und überflüssige technische Innovationen. Schnelligkeit. Fortschritt ohne Ende. Geld. Macht. Wir tun immer mehr von dem, was uns und der Welt nicht gut tut. Und immer weniger von dem, was wirklich nötig und richtig wäre. Noch schlimmer als dass so ziemlich viel gerade echt beschissen läuft, ist aber die Tatsache, dass wir das alles wissen. Alles, was beschissen auf dieser Welt läuft, das wissen wir. Wir sehen es. Wir hören davon. Und doch. Ja mei. Was willste machen. Die Welt ist halt so. Achselzuckendes Emoji. Hallo shifting baselines. Hallo Frosch im heißen Wasser.
Dabei haben wir eine so immense und tiefe Sehnsucht nach dem Guten, nach Fairness und nach Gerechtigkeit. Wir wollen, dass in den Filmen und Büchern zum Schluss immer die Guten oder "das Gute" gewinnt. Gewinnt in einem Film das Böse, ist das kaum zu ertragen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass jemand glücklich aus dem Kino kommt und sich ein fröhliches Liedchen pfeift, wenn der Killer alle erwischt hat und weiter frei herumläuft. Überhaupt finde ich es mehr als fragwürdig, bösen Figuren mit bösen Absichten in Form von Büchern, Filmen und Serien so viel Raum und so viel Bühne zu geben.
Ich stelle diese Fragen auch in dem Bewusstsein, dass sich, zum Glück, langsam etwas ändert. Denn es ist schön zu beobachten, dass sich immer mehr Frösche aus dem heißen Wasser heraus bewegen. Aber wir sind noch viel zu wenige davon. Unser Bewusstsein dafür, dass wir mit Maximalgeschwindigkeit auf ein menschengemachtes Desaster auf unserer Erde zusteuern, wächst. Unsere heutigen – von guten oder miesen Absichten angetriebenen – Entscheidungen bestimmen unser Morgen. So mühsam und anstrengend es ist, für eine gute Welt zu kämpfen, so wichtig ist es. Bestehende Modelle und Überzeugen zu hinterfragen, ist längst überfällig. Gut, dass es die Fridays-for-Future-Bewegung gibt. Gut, dass es immer mehr Menschen gibt, die die Sinnhaftigkeit ihres Tuns und Arbeitens fordern, statt einfach nur irgendwie und irgendwo Geld zu verdienen. Gut, dass immer mehr Menschen Vegetarier und Veganer werden. Gut, dass Werte wie Nachhaltigkeit und Fairness auf der Sexyness-Skala von ganz unten langsam und stetig nach oben klettern. Gut, dass Fast-Fashion-Unternehmen immer verpönter werden. Gut, dass wir die Augen aufmachen und die Ohren spitzen.
Gut, dass wir anfangen, endlich umzudenken. Gut, dass wir endlich anfangen, umzulenken. Gut, dass die Frösche endlich aus dem heißen Wasser hüpfen.
Nur ein epochaler Fehler?
"Darum geht es doch: Das Glück der Menschen zu erhöhen, nicht darum, aus keinem Grund immer schneller zu werden, immer intensiver falsche Pfade auszutreten."
– Harald Welzer // Sozialpsychologe und Autor // im stern Februar 2019
Erzählen und gestalten wir also eine Geschichte, die mehr zu bieten hat. Wir sprechen immer von Fehlerkultur. Scheitern gehört dazu. Scheitern ist wichtig. Jeder kreative Mensch, jede*r Unternehmer*in, jede*r Forscher*in weiß, dass neue Ergebnisse und Erkenntnisse nie geradlinig entstehen und auf einer hindernislosen Bahn ins Hirn oder Leben rutschen. Jeder Innovation gehen hunderte Fehlversuche voraus. Trial and Error. Anders geht es nicht. Das weiß jedes Baby, das irgendwann keine Lust mehr hat, auf dem Boden der Tatsachen vor sich hin zu stagnieren. Es hebt seinen dicken Windelpopo und tapst unbeholfen los. Hinfallen, aufstehen, weitermachen. Aus dem Hinfallen lernen und es beim nächsten Versuch anders machen. Nicht einfach weitermachen, sondern alles besser weitermachen. Vielleicht sind wir gerade epochal in genau so einem Hinfallen gefangen. Sind als Menschheit mal fett auf die Schnauze gefallen. Haben uns verirrt. Dürfen wir auch. Gehört zum Lernprozess dazu. Irren ist schließlich menschlich. Fehler sind dazu da, um korrigiert zu werden. Und das können wir auch im großen Ganzen. Um aus Fehlern zu lernen, müssen wir diese analysieren. Und da brauchen wir auch nicht lange suchen, es ist offensichtlich, was alles im 21. Jahrhundert ein kleines bißchen ziemlich doll schief läuft. Am Ende sind all die vielen Katastrophen und fragwürdigen Praktiken wie z.B. Massentierhaltung, Hyperkonsum, Abholzung des Regenwaldes, Vergiftung und Zumülllung der Weltmeere aber auch nichts anderes als einfach nur Fehler. Wir haben Mist gebaut. Und nun liegt es an uns, die Verantwortung dafür zu übernehmen und zuzugeben, dass wir nicht nur auf die Schnauze damit gefallen, sondern auch in einer ziemlich dunklen Sackgasse gelandet sind. Zeigen wir Demut und Reue. Hören wir auf zu jammern. Krempeln wir statt dessen unsere Ärmel hoch und ziehen wir den Karren aus dem Dreck.
Aber lohnt sich das überhaupt noch, den Karren aus dem Dreck zu ziehen? Ist es nicht eh schon zu spät? Abgesehen davon, dass es eine faule Ausrede ist, hinter der es sich fett und bequem wunderbar verstecken lässt, um bloß nicht ins Handeln und Umdenken zu kommen, ist es nie zu spät. Zu spät ist es, wenn wir nicht mehr darüber nachdenken können, ob es zu spät ist (uns also die Erde um die Ohren geflogen ist und wir das Zeitliche gesegnet haben). Dass es nie zu spät ist, das Ruder rumzureißen, lehrt uns seit seinem Bestehen regelmäßig der Fußball, bei dem in so manchem Spiel schon echte Wunder und Katastrophen geschehen sind, je nach Perspektive, und bei dem in drei Minuten Nachspielzeit sicher geglaubte drei Tore Vorsprung mit vier Gegentoren weggeballert werden. Es ist nie zu spät, um das Blatt zu wenden.
Aber was ist mit dem Schlamassel, in dem wir schon drin stecken und den wir angerichtet haben? Was ist mit den kaputten Wäldern, dem Tierleid in der Massentierhaltung, dem Müll und den Giften in Flüssen und Ozeanen? Harald Welzer bringt es in seinem Buch "Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen" auf den Punkt: "Ganz einfach: Das machen wir wieder gut!" In den meisten Fällen müssen wir sogar nichts weiter tun als einfach nur aufzuhören. Hören wir mit dem Mist auf. Bis wir unser Zusammenleben und unsere Wirtschaft neu ausgerichtet und neue Werte installiert und umgesetzt haben, wird noch Zeit vergehen. Logo. Ist alles kein Lichtschaltereffekt. Wir müssen neue Systeme erdenken und umsetzen. Altes, Gewohntes und Liebgewonnenes loslassen und mit Neuem ersetzen. Das dauert. Das ist ein jahrzehntelanger Schweinehunde-Überwindungs-das-geht-aber-doch-nicht-doch-das-geht-Prozess. Und vielleicht ist genau das, was uns daran hindert, auf der Stelle die Veränderungen anzustoßen: Sie sind für uns jetzt nicht greifbar. Nur vage. Warum sollen wir für eine Generation verzichten, die noch nicht mal geboren ist?
Dabei besteht hier schon der erste Denkfehler: Verzichten. Ist es Verzicht, kein moralisch und ethisch nicht mehr vertretbares Fleisch zu essen, das nur durch Leid entstanden ist? Ist es Verzicht, dass Gewässer wieder sauber werden und Wälder sich erholen dürfen? Ist es wirklich Verzicht, statt 20 T-Shirts nur noch 10 T-Shirts im Schrank zu haben? Nee. Aber wir sind so bekloppt und glauben, man würde uns etwas wegnehmen. Dabei gewinnen wir. Auf so vielen Ebenen.
Es herrscht immer noch der kollektive Glaubenssatz, man muss Mist machen und Mist verkaufen, um "reich" zu werden. Der kollektive Glaubenssatz flüstert uns auch ein, dass niemand im Leben weit kommt, wenn er ein guter Mensch ist. Die böse Stimme meint auch zu wissen, was gut für uns ist und was Erfolg ist: Reichtum. Kohle ohne Ende. Status-Symbole. Dinge Haben. Und um Dinge zu haben, beuten wir andere Menschen und die Welt, in der wir leben, aus.
Aber können wir alles haben? Ein gutes Leben mit Fairness, Sinn, Nachhaltigkeit und all dem vermeintlich "langweiligen", vernünftigen guten Kram? Natürlich. Wir leben nur (noch) in einer Welt, in der uns (noch) weis gemacht wird, dass das nicht miteinander geht. In der „alten Welt“ erreichen wir Erfolg und Reichtum nur, wenn wir rücksichtslos lügen, betrügen und alles ausbeuten, was nicht bei drei auf den Bäumen sitzt. Sofern überhaupt noch Bäume da sind.
Fröschlein, spring. Jetzt. Und dann shiften wir die Baselines. Aber mal so richtig.