Lücken, Kurven und Sackgassen im Lebenslauf

 

Liebe Uschis, 

vielleicht kennt ihr ihn auch – diesen neidvollen Blick auf Menschen, deren Lebenslauf aussieht wie das Musterbeispiel deutscher Effizienz. Von der Grundschule bis zum B.A. ohne Lücken, schnurgerade und dann weiter über die wichtigen Meilensteine der Karriereleiter. Genau so, dass man die Babypausen korrekt einplanen kann. So, wie man es machen sollte. So, wie es richtig ist.

Mein Lebenslauf sieht nicht so aus. Meiner hat Lücken, Kurven und auch manche Sackgassen. Um ehrlich zu sein – manchmal verunsichert mich das enorm. Ich bin jetzt 38, mein Berufswunsch (seitdem ich denken kann) ist es, Schriftstellerin zu sein, aber weil ich das nie für einen “echten” Beruf hielt, habe ich ganz viele andere Sachen gemacht. Aber nie richtig. Immer nur so halb. 

Und um mich herum bauten sich die perfekten Lebensläufe auf. Ich hörte Sätze wie “Die Jahre zwischen 20 und 30 sind die wichtigsten in deinem Leben!”. Oder “Also, spätestens mit 28 will ich verheiratet und das erste Mal Mutter sein! – Du hast doch noch nicht mal einen Freund. – Ja, und?” Okay, no pressure. 

Jetzt bin ich fast 40 und die Hälfte der Plan-Ehen, die den opulenten Hochzeiten mit 26 folgten (ich kenne Menschen, die zahlen die Kredite dafür noch immer ab), sind bereits wieder geschieden. Jobs wurden gewechselt, Karrieren abgebrochen, Wohnorte verändert und Pläne verworfen. 

Sind diese Leute dadurch gescheitert oder unglücklich?

Auf keinen Fall.


Warum hast du es eigentlich so eilig?

Diese Hysterie, wir müssten vor unserem 30. Geburtstag alles geregelt bekommen und unser ganzes Leben ausrichten, nervt mich unendlich. Mit 30 alles in feste Bahnen gelenkt, mit 40 richtig angekommen und dann? Was ist denn dann? Bleiben wir dann mit 40 für immer und ewig dort, wo wir vermeintlich angekommen sind? Was ist, wenn ich jahrzehntelang auf ein Ziel zu renne und dann feststelle, dass es dort kacke ist? Soll ich dann noch 50 Jahre dort bleiben?

Ich bin 38. Ich habe eine Lebenserwartung von 90, noch nicht mal die Hälfte meines Lebens hinter mir und möchte mich weiterentwickeln. Und doch habe ich auch dieses Stimmchen in mir. Ganz leise, aber vehement. “Du bist zu alt. Es ist zu spät. Du hast deine Chance verpasst.” Natürlich sage ich dieser Stimme, dass sie sich bitte ins Knie f*cken soll, aber erstens ist sie nur eine körperlose Stimme und hat gar keine Knie, und zweitens ist es eine Stimme in MEINEM Kopf. Ich schränke mich also selber ein. Warum mache ich das?


Alte Regeln gelten nicht mehr

Was für die Nachkriegsgeneration und die Babyboomer normal war – also früh heiraten und Kinder bekommen, damit der Mann sich weiter ums Familieneinkommen kümmern kann und die Frau vielleicht Teilzeit arbeitet – gilt für die Gen X, Millennials und Gen Z nicht mehr. Die Gen X, die Geburtsjahre 1965 bis 1979/1980 ist jetzt auch final über die 40er Marke getreten und es ist Zeit, die Wirklichkeit mit den Erwartungen abzugleichen. Wir alle merken auch durch ihre Erfahrungen, dass die alten Schuhe nicht mehr passen. Ein Drittel aller Ehen wird geschieden und ich kenne viele Menschen, die beim zweiten oder dritten Anlauf erst richtig glücklich wurden.

Wir haben heute die Möglichkeit, uns stetig weiterzuentwickeln. Wie können wir also davon ausgehen, dass der Partner oder der Job, für den wir uns mit 20 entschieden haben, mit 40 noch passt? Die Hosen, die wir uns mit 20 zugelegt haben, passen ja meistens auch nicht mehr. Es entwickelt sich nicht nur die Persönlichkeit, sondern auch das Körperfett. Und das ist beides okay. 

Eine klassische Berufsausbildung in Deutschland beginnt mit 16 bis 18 Jahren – zu diesem Zeitpunkt tatsächlich etwas zu finden, das für immer passt, ist doch Glückssache, oder? In den USA gibt es einen eigenen Begriff für die berufliche Unzufriedenheit zwischen 35 und 40, die Mid Career Crisis. Und was soll man dagegen tun? Sich etwas Neues suchen. Einen neuen Job oder gleich eine neue Branche? Vielleicht beginnt man gleiche eine neue Ausbildung (wenn man es sich leisten kann).


Mehr Raum für Veränderung

Vielleicht sollten wir Veränderungen in unserer Lebensmitte nicht mehr verächtlich abtun, sondern einfach normalisieren, dass wir uns unser Leben lang verändern. Alte Schuhe passen einfach manchmal nicht mehr, und niemand erwartet von uns, dass wir uns in sie hinein quetschen bis wir Blasen bekommen.

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Feiern wir es doch einfach, dass es Menschen gibt, die neugierig und aufgeschlossen bleiben. Wer mit 20 den richtigen Partner oder die richtige Karriere aussucht – Glückwunsch! Ich freue mich für dich. Aber wenn etwas nicht mehr funktioniert, dann bin ich definitiv dafür, es auszutauschen, bevor es wirklich wehtut.

Bleiben wir alle offen, neugierig und abenteuerlustig. Das Leben ist doch viel zu schön und viel zu kurz, um unglücklich zu sein. Manchmal passen Erwartungen und Realität einfach nicht zusammen und dann muss man sich neu suchen. Mit ein bisschen Mut und Optimismus können so wundervolle Sachen entstehen. Neue Lieben, neue Herausforderungen, neue Lebenswege.

Tony Stark war im MCU auch Anfang 40, als er seinen Karrierewechsel vom Waffenfabrikant zu Iron Man vollzog. 

Besser spät als nie. Wer hätte sonst Thanos besiegt? Du musst nicht gleich das ganze Universum retten, aber vielleicht dein kleines eigenes. Und das ist wertvoll.


P.S. Zu diesem Thema passt übrigens auch wunderbarst dieser Vortrag von “Ober-Uschi” Henriette “Ein neues Leben beginnen - warum du nie zu alt für Veränderungen bist” 

 

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Ein Artikel von Marie Spitznagel