Unsere liebe Fehlerkultur

 

Liebe Uschis, jeder Mensch macht Fehler. Das ist eine alte Weisheit, die man sich oder seinen Lieben immer wieder sagt. Zum Trost. Aus Fehlern lernt man, ist auch so ein Spruch. Ein „Im besten Fall“, setze ich inzwischen gerne noch hinterher. 

Aber – wie gehen wir denn tatsächlich mit Menschen um, die Fehler machen? Was sind Fehler, sollte man sie verzeihen oder nicht und wenn ja, wann? Und unter welchen Voraussetzungen? So viele Fragen und nur meine grenzenlose Selbstüberschätzung, um sie zu beantworten. 


Wie wir auf Fehler reagieren

Der Partner vergisst (Hafer)Milch für den Kaffee am Morgen zu besorgen. Die Kollegin versäumt es, eine wichtige Aufgabe zu erledigen und geht dann zwei Wochen in den Urlaub. Eine prominente Person äußert sich abwertend über eine Gruppe Menschen.

Es gibt viele kleine und große Fehler, die Menschen machen können. Manche davon sind schwerer zu verzeihen als andere, ganz klar. (Spoiler: Die vergessene Hafermilch kann ich mindestens den ganzen Morgen übel nehmen.) Im Privaten ist es einfacher, auch mal gnädig zu sein. Wer will schon den ganzen Tag schmollen oder musste selber schon auf die Nachsicht der netten Kollegin hoffen? 

Aber gerade in der öffentlichen Debattenkultur ist die Toleranz für „Fehler“ sehr ... sagen wir mal, gering, und eine Abstufung zwischen verschiedenen Entrüstungseskalationsstufen schwierig. 

Da wird die Äußerung von Matt Damon zur Metro-Bewegung, es gäbe ein „Spektrum von Verhaltensweisen“ und es sei etwas anderes, jemandem den Po zu tätscheln, als jemanden zu vergewaltigen (Was faktisch richtig, aber sicherlich unsensibel, doof und zu dem Zeitpunkt nicht angebracht war), direkt mit einem sexuellen Übergriff gleichgesetzt. 

Dabei müssen wir doch anerkennen, dass eine dumme Aussage wirklich etwas anderes ist. Er hat danach richtig festgestellt, dass es jetzt für Männer an der Zeit wäre, einfach mal still zu sein und zuzuhören. 

Da wird dann schon mal gerne die vermeintliche Sau durchs (virtuelle) Dorf getrieben und die Entrüstung ist riesig. Bis zum nächsten großen Aufreger. Das Problem mit dieser Dauerentrüstung: Es macht das Ganze so beliebig. Dinge, die tatsächlich breite Entrüstung verdienen, verschwinden so in einem Meer aus Lärm und Gezeter.

Und das ist richtig scheiße, denn einige dieser Entrüstungsstürme sind wichtig und richtig. Ohne diese öffentliche Entrüstung wären soziale Bewegungen wie MeToo eben nicht möglich.


Was passiert danach?
 

Wir alle haben schon mal Fehler gemacht. Vielleicht haben wir sie danach bereut, vielleicht nicht. Vielleicht konnten wir sie wieder gut machen, vielleicht aber auch nicht. Aber wir alle wollen nicht ewig an ihnen gemessen werden. Wir alle wollen tatsächlich aus unseren Fehlern lernen dürfen.

Natürlich ist es ein Problem, wenn all unsere vergangenen Fehler fein übersichtlich im Internet zu finden sind. Das musste vor einigen Wochen Sarah-Lee Heinrich erfahren, als einige (teilweise sehr) problematische Tweets aus ihrer Vergangenheit ausgekramt wurden. Natürlich muss man dazu sagen, dass sich hier jemand große Mühe gemacht hat, Dinge zu finden ___STEADY_PAYWALL___ und auch darüber sollten wir mal diskutieren, aber vor allem geht es hier um die Frage, ob man einen Menschen an Fehlern messen darf/kann/muss, die er Jahre vorher begangen hat. Ja, nein, vielleicht?

Christian Lindners Jungunternehmervideos mit Kuh-Krawatte werden ja auch immer wieder rausgekramt und ich frage mich: Warum? Er war ja früh motivierter Geschäftsmann mit diversen Unternehmen, die gescheitert sind. Weil wir alle lernen müssen. Als er hämisch im Landtag von NRW drauf angesprochen wurde, wehrte er sich und verteidigte das Recht, scheitern zu dürfen. Man muss mit ihm politisch nicht 100 Prozent einer Meinung sein, um ihm für diese Rede zu applaudieren.

 
 


Aber es geht natürlich auch um andere Fehler. Nicht nur Dinge und Situationen, die andere unberechtigt immer wieder herauskramen (das fällt dann auch in die Kategorie des toxischen „Du kannst aber nicht für A kämpfen, wenn du nicht B machst oder C mal gemacht hast“ – immer Kacke!). Sondern wirklich blöde Sachen. 

Ich persönlich schaue mir in solchen Situationen an, wie ein Mensch reagiert, wenn er auf einen Fehler hingewiesen wird. Und in meinem Universum ist die unschönste Reaktion Bockigkeit und Ignoranz. Also alles auf einer Skala von „Stimmt gar nicht“ über „Selber!“ bis „Nichts darf man mehr, scheiß Cancel Culture“. 

Bei sowas habe ich leider dann direkt keinen Bock mehr, mich mit Menschen auseinanderzusetzen. Denn diese Reaktionen führen dann meistens ohne Umwege zum „Eigentlich bin ich das Opfer“-Blues. Und den höre ich mir nicht mehr an.


Mhm. Und jetzt? 

Wir alle machen Fehler und es ist immer ganz schön, sich das bewusst zu machen, bevor man direkte Entrüstungsstressflecken bekommt. Zudem gibt es Dinge, die einfach weniger Entrüstung verdienen als andere. Für meinen Geschmack hat die Aussage von Joshua Kimmich, er wäre einfach noch unsicher wegen Langzeitfolgen und daher noch nicht geimpft, viel zu viel Aufmerksamkeit bekommen. Glaubt wirklich irgendjemand, man könne unsichere Menschen zum Impfen bewegen, indem man einen Fußballprofi, der ihre Bedenken teilt, virtuell teert und federt? Diejenigen, die versucht haben, ihm seine Sorgen zu nehmen, sind da wahrscheinlich näher an einer Lösung. 

Gerade im Kontext der Pandemie gibt es viele „Fehler“, die gemacht werden und, um Jens Spahn zu zitieren, „Wir werden uns gegenseitig viel verzeihen müssen.“ Denn Menschen handeln in Ausnahmesituationen nicht rational, aber niemand wird ein Familienmitglied aus dem Querdenkersumpf zurückholen können, wenn auf diese Person dann nur Hohn und Spott wartet.

Aber ich schweife ab.

Also, bittet eine Person nach einem Fehler um Entschuldigung, gibt es wieder ganz viele Möglichkeiten, damit umzugehen. Zu Beginn stellt sich die Frage, wie ernst diese Bitte ist und inwieweit sich die Person mit diesem Fehler auseinandergesetzt hat oder auseinandersetzen möchte. 

Ein sehr positives Beispiel ist hier Micky Beisenherz, der in einer sehr (und ich fühle mich fast wieder jung an dieser Stelle) cringy Fernsehsendung mit anderen weißen Menschen über Rassismus diskutierte. Die „Haben die jetzt nicht gesagt“-Dichte in der Sendung war hoch und der Fremdscham ausgeprägt. Danach hat er sich aber von Hatice Akyün in seinem Podcast verbal den Hintern versohlen lassen, seine Aussagen und die Probleme damit öffentlich hinterfragt und sich seitdem auch nicht mehr dementsprechend geäußert. So kann es gehen. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist dabei - und eigentlich in jeder anderen Situation auch - enorm hilfreich. 


So, und wie verbleiben wir jetzt damit?

Wir alle werden in unserem Leben Fehler machen. Dumme Sachen sagen. In schlechter Laune jemanden anpampen. Ein Projekt vermasseln. Scheitern. Versagen. Und dann werden wir damit leben müssen. 

Wir können danach zu unseren Fehlern stehen, uns korrigieren lassen und Menschen, die Jahre später immer noch einen alten Hut aus verstaubten Schachteln kramen wollen, auch einfach eloquent in ihre Schranken weisen.

Was wir nicht machen sollten, ist jeden Hinweis auf einen Fehler sofort mit Wut und bockiger Attitüde von uns weisen, ohne darüber nachzudenken. Genauso wenig müssen wir jeden Hinweis sofort mit Bückling aufnehmen und uns im vorauseilenden Gehorsam entschuldigen, ohne darüber nachzudenken, ob wir das überhaupt als notwendig empfinden. 

Wir dürfen eine Haltung haben, auch wenn andere sie doof finden. Und im besten Falle diskutiert man dann darüber. Es lässt sich alles wieder darauf reduzieren, dass wir wieder miteinander reden müssen – und (viel wichtiger) einander auch zuhören. Nicht nur warten, bis der andere kurz Luft holt, um selber wieder zu sprechen. 

Natürlich gibt es unverzeihliche Dinge. Ich plädiere hier an der Stelle nicht dafür, Julian Reichelt liebevoll gegen die Schulter zu knuffen und „Ich hoffe, du hast was aus deiner Zwangspause gelernt, du Racker. Jetzt geh auf deinen Chefredakteursstuhl zurück, aber heute werden keine Praktikantinnen sexuell ausgebeutet!“ zu sagen. Natürlich nicht. Aber auch hier dürfen wir alle mehr Graustufen sehen, unsere Entrüstung für die wirklich entrüstenden Dinge aufsparen und andere hin und wieder auch einfach verzeihen. 


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Ein Artikel von Marie Spitznagel


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