Toxischer Aktivismus – das Gegenteil von gut gemacht ist gut gemeint

 

Redaktion: Marie-Christin Spitznagel


Liebe Uschis, dieses Thema ist schwer für mich, denn ich muss mich dabei auch ganz intensiv mit Verfehlungen meinerseits auseinandersetzen. Aber wir sind auf der Welt, um zu lernen und durch die Uschis durfte ich schon viele neue Erkenntnisse gewinnen. Heute möchte ich euch alle auch daran teilhaben lassen.

Es geht um toxischen Aktivismus. Was genau bedeutet das hier in diesem Kontext?

Das Adjektiv toxisch, also giftig, wird momentan vor ziemlich viele Worte gesetzt, um eine besondere, negative Ausformung einer eigentlich guten Sache zu beschreiben, die als ungesund, kontraproduktiv und/oder schädlich betrachtet wird. Toxische Maskulinität ist wahrscheinlich der bekannteste Kontext, in dem dieser Begriff vorkommt. Er beschreibt ein übertriebenes, exzessives Ausleben vermeintlich männlicher Attribute, wie Gefühllosigkeit und Aggressivität. 

Von toxischem Aktivismus liest man bisher seltener, aber ich halte es für unheimlich wichtig, sich auch diese Form anzusehen. Denn Menschen, die bereit sind, sich für positive Veränderungen einzusetzen, brauchen wir heutzutage (wieder?) dringend. Aber diese negativen Formen des Aktivismus können gute Dinge von innen heraus ruinieren.  

Ich konzentriere mich auf drei Dinge – Menschen die in ihrem Aktivismus sich selbst überfordern, Menschen, die andere überfordern und Menschen, die überfordert sind, Maß und Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Die Schnittmenge dieser Menschengruppen ist natürlich groß.

Was ist falsch daran, viel zu wollen?

Toxischer Aktivismus

Naja, erstmal nichts. Jeder junge Mensch, der in dem Glauben aufgewachsen ist, die Welt wäre ein guter Ort, an dem Männer und Frauen absolut gleich sind, wir alle unseren Müll trennen und es ein Happy End gibt, wird im Laufe seiner Jugend die enttäuschende Entdeckung machen, dass dem nicht so ist. Einige von ihnen werden daraufhin wütend und versuchen, die Welt dem anzupassen, was ihnen als Kindern versprochen wurde.

Ich finde das großartig. Ich finde das bewundernswert. Ich möchte jede*n einzelne*n von ihnen unterstützen. Aber vor allem möchte ich ihnen sagen, dass sie nicht alles allein machen können.

Und nicht dauernd. Jeder Mensch braucht Pausen. Toxischer Aktivismus kann also sein, an seinen eigenen Ansprüchen auszubrennen. Tatsächlich ist diese selbstzerstörerische Form aber (gefühlt?) nicht die am häufigsten vertretene.

Ich bin besser als du, und das musst du unbedingt wissen

Viel häufiger sind diejenigen, die, speziell auf Social Media, andere Aktivisten abwerten. Ich unterteile sie frei in drei Gruppen:  

1. Das sind die “Ach, du setzt dich für den Umweltschutz ein, aber bist mit deinen Eltern in den Urlaub geflogen, als du 10 warst? Na DANN kann ich dich ja nicht ernst nehmen!” – Sager.

2. Die “Also, wenn du dich ja angeblich so für Tierschutz interessierst, warum äußerst du dich denn nicht zu den Vorfällen beim Kaninchenzücherverband Hintertupfingen?” – Forderer.

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3. Die von mir am leidenschaftlichsten doof gefundenen “Also, ist ja schön, dass du Feministin bist, aber ich bin eine viel bessere Feministin als du” – Selbstproduzierer.


Gruppe eins unterstelle ich meistens, dass sie gar nicht interessiert daran sind, wirklich auch aktiv für etwas tätig zu werden, sondern eher eine Entschuldigung suchen, damit sie nicht mehr machen müssen. Und warum muss man eigentlich in allem perfekt sein, um sich für eine Sache einsetzen zu dürfen? Wo kommt denn diese quatschige Annahme her? Niemand ist perfekt und diese Ansätze dürfen wir nicht an uns oder andere stellen.

Die Arbeit und das Engagement anderer abzuwerten ist einfach ätzend, aber eben so schön ... einfach. Man muss sich nur einreden, dass “die Anderen” ja eigentlich auch nicht besser oder engagierter sind, und hat dann eine perfekte Ausrede, um sich selbst keine Mühe geben zu müssen. Das geht auch auf globaler Ebene. Warum sollte Deutschland seine Klimaziele erreichen müssen, wenn China oder die USA es doch auch nicht tun? (Diese Ausrede ist natürlich in vielerlei Hinsicht Quatsch. Deutschland ist laut dem Climate Change Performance Index von 2019 nur auf Platz 27 der klimafreundlichsten Länder. Aber das ist ein anderes Thema)

Toxischer Aktivismus

Gruppe zwei finde ich besonders nervig, weil sie erwarten, dass man sich immer zu jedem Thema äußert. Da berufe ich mich gerne auf meinen Beitrag zum Thema “Meinungsfasten”. Niemand kann alles wissen und zu allem etwas Kluges (!) sagen. Natürlich gibt es genug Leute, die zu allem ihren Senf abgeben. Und das ist nur selten wertvoll. Wir alle sollten dringend damit aufhören, andere unter Druck zu setzen, sich zu etwas zu äußern, dass nicht in deren Fachgebiet liegt. Außer natürlich diese Person ist in irgend einer Form verantwortlich.  

Gruppe Nummer drei ist furchtbar anstrengend. Meistens geht es hier tatsächlich nur darum, andere abzuwerten, nur sich selbst zu erhöhen. Leider sind daran auffällig oft Frauen beteiligt. Ein düsteres Überbleibsel der 2000er, in denen es ein Kompliment sein sollte zu sagen “Du bist nicht wie die anderen Frauen”. Eine finstere Zeit, die noch nicht alle hinter sich gelassen haben.

All diese Arten von toxischem Aktivismus haben nichts damit zu tun, etwas zu verbessern oder sich für eine Sache einzusetzen. Sie sind dazu da, um sich vermeintlich besser zu fühlen, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen und sich zu beweisen, dass auch die anderen nicht besser sind, als man selbst. 

Leider werden Menschen, die tatsächlich etwas bewegen wollen, oft von diesen negativen Stimmen ausgebremst, weil ihnen damit die Energie geraubt wird, was schade ist.

Last and worst

So, jetzt habe ich euch verschiedene Formen von Aktivismus vorgestellt, die ich schwierig finde. Aber die wirklich blödeste Form, die sich aktuell gerne zeigt, ist der faule Twitter-Aktivismus, der sich darauf beschränkt, stellvertretend beleidigt zu sein. Und hier wird es kniffelig. Ich persönlich finde Diskriminierung ziemlich doof und möchte nicht zusehen, wenn andere Menschen kacke behandelt werden. Aber ich möchte auch nicht blindlings übermotiviert beleidigter sein, als diejenigen, die (vielleicht?) beleidigt wurden. Was meine ich damit?

Toxic Activism

Also: Stellen wir uns vor, ein Komiker macht auf der Bühne einen Witz, der unter anderem einen homosexuellen Menschen beinhaltet. Dieser Witz ist letztendlich nicht automatisch homophob. Kontext, Absicht und die Art des Vortrages spielen eine Rolle. 

Der Comedian Daniel Sloss hat im zarten Alter von 22 einen sehr tollen TED Talk zu diesem Thema gehalten.

Er erzählt außerdem in seinem Programm “Dark” von seiner schwer geistig und körperlich behinderten Schwester und konfrontiert sein Publikum mit ihrer Reaktion auf dieses Thema. “Für wen seid ihr hier gerade stellvertretend beleidigt?” fragt er. Und natürlich ist diese Frage hier an dieser Stelle berechtigt. Er macht sich nicht über seine Schwester lustig, sondern erzählt von den absurden Situationen, die er mit ihr erlebt hat. Kontext, Absicht und Art des Vortrages.

Witze über Menschen zu machen, über die man sich selbst erhöhen möchte, ist immer Kacke. Für mich zählt die Absicht, die hinter einem Witz steckt. Wenn die Absicht ist, jemanden herabzuwürdigen, der gesellschaftlich ausgegrenzt wird, finde ich das nicht lustig. Wenn ein Witz nicht die ungerechten gesellschaftlichen Machtverhältnisse als Punchline hat, sondern diese wiederholt und sich an ihnen ergötzt, ist das nicht witzig. Deswegen ist es entscheidend, ob sich Felix Lobrecht über Behinderte oder seine eigene Reaktion auf Behindertenparkplätze lustig macht.

Das sehen aber natürlich nicht alle so. Und da komme ich wieder auf den toxischen Aktivismus zurück, der jeden Witz genauestens auf eine mögliche Beleidigung hin untersucht und schon Alarm schlägt, wenn ein (vermeintlich) marginalisierter Mensch darin enthalten ist. Egal ob als Ziel des Witzes oder nicht.

Ich kann verstehen, dass man Diskriminierung verhindern und ein guter “Verbündeter” (das amerikanische Wort “Ally” lässt sich leider nicht besser übersetzen) sein möchte. Natürlich gibt es Fälle, in denen alles eindeutig ist. Allerdings ist es angemessen, nicht jedes Mal in vorauseilender Entrüstung Schnappatmung zu bekommen, wenn eine bestimmte Gruppe Mensch in einem Witz angesprochen wird. Vielleicht warten wir die Reaktion der angesprochenen Menschen erst mal ab und solidarisieren uns dann mit ihnen. In die eine oder andere Richtung. Und: Ja, diese Gruppen sind auch immer heterogen und haben unterschiedliche Meinungen, aber oft zeichnet sich eine deutliche Tendenz ab. Und manchmal muss man auch einfach gar nichts sagen.

Und jetzt?

Toxischer Aktivismus

Aktivismus ist wichtig. Menschen, die sich für etwas einsetzen, sind wertvoll. Fridays for Future, Black lives matter, Metoo, all diese Gruppen haben unsere Gesellschaft nachhaltig bewegt. Jeder Mensch, der sich einsetzt für die Ziele, an die er glaubt, ist Gold wert.

Achten wir darauf, dass diese Menschen nicht ausbrennen, ihre Leistungen nicht kleingeredet werden und dass ihre und unsere Energie sich auf die eigentliche Sache konzentrieren kann. Es geht nicht darum, zu beweisen, wer “besser” oder ein tollerer Aktivist ist. Wir müssen unsere Kommentare nicht screenshotten und in unsere Instagram-Storys posten. Wir müssen nicht stellvertretend für Andere entrüstet und beleidigt sein. Manchmal geht es auch einfach gar nicht um mich oder dich. Und auch das können wir dann einfach mal aushalten.

 

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Ein Artikel von Marie Spitznagel



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Meinung, ThemaHenriette Frädrich