Wohin mit der Wut? Ein Kommentar mit Magenschmerzen

 

Sind wir mal ganz ehrlich: Es gibt niemanden mehr in Deutschland, der nicht zu Tode genervt ist und permanent schreiend im Kreis rennen will. Oder? Wir erleben eine weltweite Pandemie, wie es sie zuvor nur selten in der Geschichte der Menschheit gegeben hat, auch wenn das Szenario schon in dutzenden Katastrophenfilmen genutzt wurde. Doch was nicht in den Geschichtsbüchern zu lesen und in den Filmen zu sehen ist, ist der Umstand, wie unglaublich das alles nervt. Wer hätte gedacht, dass man einundzwanzig Monate am Stück fast dauergenervt sein kann. Noch nie kam mir eine Zeit so kaugummi-ig langgezogen vor. 


Alles nervt
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Die Zwischenüberschrift verrät es. Alles nervt. Steigende Zahlen nerven. Endlose Debatten, in denen jede Seite die gleichen Argumente wiederholt, nerven. Die Politiker und Pressevertreter, die so tun, als hätte man eine drastische Verschlimmerung im Winter nicht kommen sehen, nerven. Eine Inzidenz über 800 bei Kindern unter 14 nervt, während die Stiko sich Zeit lässt, einen Impfstoff zu empfehlen, der in anderen Ländern bereits Millionen Kindern verabreicht wurde. Es nervt mich, dass so viele Menschen nicht verstehen, was mit „Langzeitfolgen nach Impfungen“ überhaupt gemeint ist und glauben, Jahre nach einer Impfdosis könnte noch etwas passieren.

Es nervt mich, dass sowas nicht sinnvoll und verständlich und rechtzeitig erklärt wird, um Menschen ihre Angst und ihre Zweifel zu nehmen. So vieles nervt.

Aber vor allem nervt mich meine eigene Wut. Und so vieles macht mich unglaublich wütend.

Ich bin wütend auf Impfverweigerer als Masse, dabei gibt es liebe Menschen um mich herum, die zu dieser Gruppe gehören. Meine Sorge um meine Kinder macht mich wütend, dabei begreife ich, dass Menschen, die vielleicht nicht so wissenschaftsaffin sind wie ich, ebenso Angst vor der Impfung haben, wie ich vor dem Virus. Mich nervt, dass ich das Gefühl habe, keine Gespräche mehr führen zu können, ohne wütend zu werden. Das will ich nicht.

Ich will nicht nur den ganzen Tag wütend sein, und ich möchte nicht Teil einer Gesellschaft sein, die den ganzen Tag wütend ist. Ich will mich nicht on- und/oder offline mit Menschen anschreien. Weil das einfach nichts bringt. Niemand wird seine Meinung ändern, weil ihn irgendjemand herablassend, vulgär oder sogar bedrohend auf einen vermeintlichen Irrtum hingewiesen hat.

Es ist nicht so, dass ich morgens aufwache und mir überlege, wen ich denn heute anschreien könnte.
Viel mehr erlebe ich seit fast zwei Jahren phasenweise eine ungewohnte und ziemlich abstoßende Form von Panik-FOMO. Und ich weiß nicht wohin damit.



Ein komplexes Problem kann man nicht einfach lösen.

Wir müssen ganz dringend damit aufhören, uns gegenseitig anzuschreien. Tatsächlich bringt es uns gar nichts, die Welt in gut und schlecht aufzuteilen. Ganz egal, wen man wo einteilt. Weder die Gruppe der Geimpften, noch die der Ungeimpften besteht aus einem einzigen Typ Mensch. Natürlich gibt es einerseits Menschen, die ihre Angst durch einen neuen Glauben (Weltverschwörung, Plandemie etc.) kompensieren. Es gibt aber auch die Menschen, die aus strukturellen Gründen nicht geimpft sind. Anderseits gibt es durchaus Leute, die sich gegen alles impfen lassen, wenn es von wissenschaftlicher Seite empfohlen wird. Aber auch durchaus diejenigen, die sich inzwischen gedacht haben „Scheiß drauf“ und sich nur haben impfen lassen, um wieder ausgehen zu können. Und die gehen dann auch zu einem Fußballspiel mit vollausgelastetem Stadion, während die Intensivstationen volllaufen. Weil es eben wieder erlaubt ist.

Und hier kommen wir zu einem ganz wichtigen Punkt.
Wir leben mit allen diesen Menschen in einem sozialen Gefüge und uns gegenseitig kategorisch kacke zu finden, uns zu beleidigen und gegenseitig die Schuld für alles und seine Mutter zu geben. Das hilft niemandem. Weder bei Corona, noch bei den zukünftigen, weitaus größeren Problemen, die durch Klimawandel und Artensterben auf uns zukommen.

Vielmehr sollten wir uns doch fragen, warum manche Dinge erlaubt und andere verboten sind, obwohl sie den Empfehlungen von Epidemiologen und Ärzten widersprechen. Angst vor Ausschreitungen alleine kann es doch nicht sein, oder?
 

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Gerade Frankreich hat uns doch gezeigt, dass sogar die historisch rebellischsten Menschen einer klaren Ansage folgen können und wollen. Wahrscheinlich haben viele Leute erwartet, dass Paris in Flammen aufgeht, wenn eine Impfpflicht für Gesundheitspersonal verhängt wird. Tat es aber nicht. Es gab einen Ansturm auf Impfungen. Ähnliches sahen wir in Österreich. Und hier in Deutschland? Hier vergisst die Stadt Hamburg ein Impfzentrum zu öffnen, während Menschen davor im Regen stehen und warten. Und Impfbusse müssen Impfwillige wegschicken, weil sie nicht genug Kapazitäten haben. 

So schwer sollte es nicht sein. Es müssen doch nicht nur Menschen impfwillig sein, sondern diese Impfung auch bekommen können. War Deutschland nicht mal das Land der Organisierten? 


Vom zwanglosen Zwang des besseren Argumentes

Ich möchte jetzt gar nicht zwingend für eine Impfpflicht werben, sondern vielmehr für klare Ansagen. Weil sie Sicherheit geben. Aktuell haben wir aber eine „Noch, aber eigentlich nicht mehr“-Regierung und eine „Eigentlich noch nicht“-Regierung, die beide (Stand Ende November 2021) nicht wirklich agieren, sondern maximal reagieren. Uns Deutschen fehlt der Pragmatismus.

Was ist denn aus unserer angeblichen Effizienz geworden? Haben wir sie verloren, oder gab es sie noch nie? Sollten wir nicht in der Lage sein, als eines der reichsten Länder dieser Welt, Strukturen zu schaffen, mit denen es schnell und einfach möglich ist, sich impfen zu lassen? Warum arbeiten unsere Gesundheitsämter noch mit Faxmaschinen, warum sind wir so grottenschlecht, wenn es um Digitalisierung geht?
Was ist denn mit unserem angeblichen Erfindergeist?
Wie kann es sein, dass uns über 30.000 Fachkräfte im Pflegesektor fehlen? Ich fühle mich fast schon patriotisch beleidigt von all diesen Umständen und dabei hätte ich von mir bisher behauptet, keinerlei patriotischen Gefühle zu haben. Jetzt werde ich schon wieder wütend.
Ein Glück will die Ampel-Koalition Cannabis legalisieren. Vielleicht hilft das, die Wut zu lindern.

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Ein Artikel von Marie Spitznagel


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